In einem Land unserer Zeit

Movie-Kritik: Neuland
Bildquelle: 
Filmcoopi

Christian Zingg hat Geduld. Sehr viel Geduld sogar. Während zwei Jahren betreut und begleitet der Lehrer seine Schülerinnen und Schüler, die alle circa zwischen 16 und 20 Jahre alt sind, an der Integrations- und Berufswahlklassen (IBK) in Basel und bereitet sie auf ein Leben in der Schweiz vor. Er bringt ihnen Deutsch bei. Dabei beginnt er bei Null, denn die meisten sprechen nur die eigene Muttersprache und ein paar Brocken Englisch. Zingg geht mit Strenge, Disziplin und ja manchmal auch mit väterlicher Fürsorge vor. Er macht Ehsanullah Habibi, Nazlije Aliji, Ismail Alji, Hamidullah Hashimi, Hossein und all den anderen Migrantinnen und Migranten nichts vor. Sie müssen Deutsch lernen, um sich in der Schweiz ein neues Leben aufzubauen. Um eine Lehrstelle zu finden und eigenständig auf den Beinen zu stehen. Dafür müssen sie aber diszipliniert sein und an der Schule ihr Maximum geben. Es sind zwei Jahre voller Höhen und Tiefen, die Regisseurin Anna Thommen («Ein Stück Wahnsinn», «Second Me») auf Kamera festhält. 

 

Bild 1: Wenn Lehrer Zingg etwas erklärt, hören seine Schützlinge (Bild 2) aufmerksam zu. (Mit Maus über Bild fahren)

 

Dass diese jungen Leute ein Kamerateam so nahe an sich heranlassen, ist vorneweg schon mal bemerkenswert. Der Zuschauer erlebt mit Ehsanullah Habibi, Nazlije Aliji, Ismail Alji, Hamidullah Hashimi und Hossein wie sie ihren Alltag in einem ihnen völlig fremden Land bestreiten. Dabei zoomt die Kamera teilweise so nah an ihre Gesichter ran, dass man fast schon förmlich ihre Angst und Unsicherheit fühlen kann. Man erlebt das Wechselband ihrer Gefühle im Sekundentakt mit, auch wenn die meisten ihre Unsicherheit zu verbergen versuchen, was nicht immer gänzlich gelingt.Die Züge sind manchmal distanziert und wie versteinert, doch ihre Augen, die so oft als Spiegel der Seele bezeichnet werden, verraten was in ihrem Innersten vorgeht. 

 

Wer mitmacht, wird respektiert

 

Trotzdem ist der Film teilweise gar zu beschönigend. Es fehlt der Konflikt. Die Protagonisten sind manchmal gar zurückhaltend in ihrer Wut. Man erlebt keine Ausbrüche, keinen Kulturschock, keine Missverständnisse zwischen Ausländenr und Schweizern, die es nun mal gibt, wenn Fremde aufeinander treffen. Man erlebt zwar den inneren Konflikt von Ehsanullah Habibi, der lieber Geld verdienen möchte, um seine Familie in Afghanistan zu unterstützen, statt die Schulbank zu drücken. Auch Nazlije Alijis Bedrücktheit, die ihre Heimat verlassen musste, weil die Mutter starb, kommt zum Ausdruck. Sie vergiest ein paar Tränen nachdem sie mit ihren Freundinnen in der Heimat geskypt hat oder versucht ihre Fassung zu wahren, als ihr bewusst wird, dass sie in ihrer Heimat bildungstechnisch mehr aus sich machen könnte. Doch abgesehen davon erlebt man nicht den Alltagskonflikt, denn der Kulturaustausch mit sich bringt. Viel mehr entsteht das Gefühl, man wolle ums Verrecken zeigen, ja betonend schreien, dass trotz Sprachbarriere alles nur halb so schlimm sei. Schliesslich werden diese jungen Leute integriert. Und wenn sie mitmachen, von der Gesellschaft respektiert. 

 

Bild 1: Der Blick in die ungewisse Zukunft kann schon mal Sorgen bereiten. Dafür schauen die jungen Menschen (Bild 2) zu einander und helfen sich. 

 

Regisseurin Anna Thommen reichte «Neuland» als Abschlussfilm an der Zürcher Hochschule für Künste ein, wo sie Anfang 2013 ihren Abschluss in Filmregie machte. Ihr Abschlusswerk ist sehenswert und regt zum Hinterfragen der eigenen Vorurteile an, zumal der Zuschauer die jungen Frauen und Männern mit ausländischem Hintergrund mehr oder weniger als tüchtige Schülerinnen und Schüler erlebt. «Neuland» wirft ein anderes Licht auf die Migrantinnen und Migranten und zeigt ihren Alltag, der oftmals jenen, die keinen Zugang dazu haben, verborgen bleibt.  

 

 

  • Neuland (Schweiz 2014)
  • Regie:  Anna Thommen
  • Darstellern:  Ehsanullah Habibi, Nazlije Aliji, Ismail Alji, Hamidullah Hashimi, Hossein
  • Laufzeit: 93 Minuten
  • Kinostart: 27.03.14

 

catarina martins / Di, 25. Mär 2014