«Ich hatte keine Ahnung, was Jazz ist»

Interview mit Youn Sun Nah
Bildquelle: 
www.actmusic.com / © Sung Yull Nah

Text von Yolanda Gil

 

Die koreanische Jazzmusikerin Youn Sun Nah hat nur wenige Stunden vor dem Auftritt am EWZ Unplugged Zeit gefunden, um in ihrem Hotelzimmer Rede und Antwort zu stehen. Dabei zeigte sich Youn Sun Nah als sehr sympathische und äusserst eloquente Person. Sie erzählte von ihren Vorbildern, wie sie zum Jazz gekommen ist und wie sie Nine Inch Nails gecovert hat. 

 

Youn Sun Nah, Ende März erschien dein neues Album «Lento». Kritiker sprechen von deinem bisher reifsten und besten Werk – wie stehst du selbst dazu?

 

Youn Sun Nah: Wow! Natürlich habe ich mein Bestes gegeben, aber mit diesem Erfolg habe ich nicht gerechnet. Dies ermöglicht es mir natürlich auch an verschiedenen Orten live zu singen. Ich bin sehr glücklich darüber. 

 

Das neue Album beinhaltet Eigenkompositionen einerseits, zum anderen auch Covers wie «Hurt» von den Nine Inch Nails, Stan Jones‘ «Ghost Riders In The Sky» oder natürlich den titelgebenden Song «Lento» von Alexander Scriabins. Was fasziniert dich an einem Song, den du coverst? 

 

Youn Sun Nah: Manchmal wähle ich Melodien aus, die ich mir angehört habe, als ich ein junges Mädchen war. Machmal sind es auch andere Musiker, die mir einen Song empfehlen, den ich covern könnte. «Hurt» zu covern hat mir zum Beispiel Ulf Wakenius, der Gitarrist, mit dem ich seit fünf Jahren auftrete, empfohlen. Ulf ist sehr offen für verschiedenste musikalische Einflüsse. Es hat mir Spass gemacht, den Song mit ihm einzuspielen. Es ist eine Herausforderung einen Song zu covern und dabei nicht dauernd ans Original zu denken. Da wir oft im Duo auftreten, Gitarre und Stimme, haben wir die Möglichkeit, einem Cover, je nach Situation, mehr Raum oder mehr Stille zu geben. Es ist zwar noch immer die gleiche Melodie, aber anders interpretiert. 

 

Diese Leichtigkeit, mit der du verschiedene Genres vermischst und sie auf deine Weise interpretierst, ist sicherlich etwas, was deine Arbeit auszeichnet und abhebt – sei es Rock, Chanson oder auch koreanische Volksmusik. Lässt sich denn jeder Song jazzig einspielen? 

Youn Sun Nah: Als ich in Frankreich ankam, um Jazz zu studieren, hatte ich keine Ahnung, was Jazz überhaupt ist. Ich hatte mir bis zu diesem Zeitpunkt all die Jazzgrössen wie Miles Davis, Charlie Parker oder John Coltrane noch nicht angehört. Ich musste also ganz von vorn beginnen. Ich fragte einige Musiker-Kollegen und Professoren – was ist das denn genau, Jazz? Sie gaben mir viele Alben, hauptsächlich amerikanische Musik, die ich mir anhören sollte und meinten, Jazz sei nicht ein Stil, sondern ein Spirit. Während des Studiums in Paris trat ich zusammen mit anderen Studenten in einer Band auf. Der Vibraphonist kam aus der Schweiz, der Bassist war Israeli, der Pianist kam aus Deutschland und ich selbst bin aus Korea. Es war eine grossartige Erfahrung. Im Namen des Jazz brachten wir unsere musikalischen Backgrounds zusammen und machten Musik. Überall, wo ich mit lokalen Jazzmusikern auftrete, ist der Jazz etwas anders, immer etwas Neues. In China zum Beispiel, wo viele Jazzmusiker leben, spielen sie klassischen Jazz und machen gleichzeitig auch ihren eigenen Sound. Ich war lange wie ein Schwamm, der das alles aufsaugte. Vielleicht war es einfacher für mich, im Jazz etwas zu wagen, gerade weil ich darüber anfangs noch nichts wusste. Ich lernte, dass es im Jazz keine Grenzen gibt und keine Unterschiede gemacht werden. 

 

Du bist in einer musikalischen Familie in Korea aufgewachsen. Deine Mutter war Musicalsängerin, dein Vater Dirigent. Deine eigene Musikkarriere hast du ebenfalls als Musicalsängerin in Korea begonnen. Wie kamst du zum Jazz? 

Youn Sun Nah: Zufälligerweise. Eines Tages unterhielt ich mich mit einem Freund, einem Bassisten, und erzählte ihm, dass ich singen wollte. «Studiere Jazz», sagte er zu mir, «Jazz ist die Wurzel der Popmusik, dann kannst du alles aus diesem Bereich singen.» Als ich nach Paris ging, dachte ich, ich würde dort das Musikstudium beenden, nach Korea zurückkehren und dann singen und unterrichten. Ich hätte niemals geglaubt, dass ich tatsächlich Jazzsängerin werden würde. Aber – hier bin ich! Es ist ein Wunder! 

 

Welche Musiker inspirieren dich?

 

Youn Sun Nah: Oh - da gibt es so viele. Neben Jazz höre ich mir gerne klassische Musik an oder auch Musicals. Jemanden, den ich sicherlich bewundere, ist Peter Gabriel. Ihn würde ich gerne einmal kennenlernen und mit ihm arbeiten. 

Ich kann eine Art Brücke sein zwischen den Künstlern in Frankreich, in Korea oder in der Schweiz.

 

Hast du während deiner Musikkarriere auch schwierige Zeiten durchlebt?  

Youn Sun Nah: Während des Studiums trat ich bereits auf, aber ich habe mir damals nicht ernsthaft die Frage gestellt, was die Zukunft bringen würde. Ich lernte jeden Tag viel und lebte sehr im Moment. Natürlich stellte ich mich und meine Stimme auch immer wieder in Frage. Es gibt viele wirklich begabte Künstler, weshalb sollte also ich diesen Weg weiter beschreiten können? In Korea durchlebte ich eine solch schwierige Periode, bevor ich Ulf Wakenius kennenlernte. Ich glaubte damals, das sei möglicherweise das Ende meiner Musikkarriere. Aber weit gefehlt. Ich glaube, das Leben verläuft generell so, in Zyklen - man ist eine Weile oben und eine Weile unten - auch mit der Gemütsverfassung ist es so. An einigen Tagen denke ich: «Oh doch, ich kann singen», und an anderen Tagen, wenn ein Konzert schlecht war, bin ich betrübt. Ich denke machmal auch, das alles könnte ein plötzliches Ende nehmen, deshalb geniesse ich jeden Moment. 

 

Deine Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet. Unter anderem wurdest du in Korea als «Best Artist» und in Frankreich mit dem «Chevalier de l`Ordre des Arts et des Lettres» geehrt. Was bedeuten dir diese Preise? 

 

Youn Sun Nah: Ja, ich kann das manchmal gar nicht glauben. Ich schätze das sehr und gleichzeitig denke ich, Musik ist kein Wettbewerb. Es ist nicht wie im Sport. Dennoch gibt mir diese Form von Wertschätzung natürlich viel Energie, um weiter zu machen. Ich kann so auch eine Art Brücke sein zwischen den Künstlern in Frankreich und in Korea oder in der Schweiz. Viele koreanische Jazzmusiker sind dadurch motiviert und sehen, da passiert etwas, alles ist möglich.

 

 

 

Du hast für das neue Album «Lento» erneut mit Jazzgitarrist Ulf Wakenius gearbeitet, der dich auch auf der diesjährigen Tournee durch Frankreich und die Schweiz begleitet. Eure gemeinsamen Auftritte rufen stets grosse Bewunderung hervor. Wie läuft die Zusammenarbeit hinter den Kulissen ab?

 

Youn Sun Nah: Die Zusammenarbeit mit Ulf Wakenius ist sehr angenehm. Wir verbringen viel Zeit miteinander, unterwegs, während der Soundchecks und der Konzerte. Gleichzeitig hat jeder auch seine Privatsphäre. Ulf ist ein brillanter Musiker und hat sehr viel Erfahrung. Er spielte zehn Jahre lang mit Oscar Peterson und anderen Jazzgrössen. Auf der Bühne haben wir hundertprozentiges Vertrauen ineinander. Auch privat sind wir sehr gute Freunde geworden und schätzen einander. 

 

Auf Tour erlebt ihr sicherlich Abenteuer aller Art. Eine Anekdote für unsere Leser, die dir speziell in Erinnerung geblieben ist?   

 

Youn Sun Nah: Oh, da passierte schon einiges, aber wir konnten die Probleme bisher immer rechtzeitig lösen. Als der Vulkan auf Island ausgebrochen war, sollten wir in der Schweiz am Cully Jazz Fastival spielen. Viele Musiker schafften es nicht rechtzeitig, weil die Flüge gestrichen worden waren. Ich nahm den Zug und Ulf schaffte es gerade noch, einen Flug von Deutschland zu erwischen, bevor der Flughafen geschlossen wurde. Wir kamen beide rechtzeitig zum Auftritt an. Solche Sachen können passieren. Aber eben - bis jetzt haben wir immer Lösungen für die Probleme gefunden.  

 

Welche musikalischen Projekte möchtest du in der nächsten Zeit verwirklichen? Worauf dürfen wir uns freuen? 

 

Youn Sun Nah: Momentan habe ich nichts geplant. Es ist eigentlich immer so – bis kurz vor den Aufnahmen im Studio habe ich kein Konzept. Ich freue mich jetzt erstmal auf die Tournee.

 

Alle Infos über Youn Sun Nah liefert ihre Website

Yolanda Gil / Mi, 10. Apr 2013