Schiffbrüchiger trifft Schildkröte, mit märchenhaften Folgen

Movie-Kritik: La Tortue Rogue
Bildquelle: 
© Filmcoopi

Ein gewaltiger Sturm zieht über den Ozean. Der Wind peitscht den strömenden Regen über die Wellen, die sich meterhoch türmen. Die Welt versinkt in Dunkelheit. Ein Schiffbrüchiger versucht sich mit aller Kraft über Wasser zu halten. Er kämpft alleine gegen die Naturgewalt und um das Überleben. Dann ist es plötzlich still … Szenenwechsel: Der Sturm ist vorüber, die Sonne scheint und der Mann ist auf einer Insel gestrandet. Nach dem ohrenbetäubenden Getöse ist die Stille fast greifbar, beinahe unangenehm. Doch Regisseur Michael Dudok de Wit lässt sich Zeit, bevor er seine Geschichte mit Musik füllt, denn die vermeintliche Stille besteht aus Naturgeräuschen, die die Zuschauer umgeben und sie so in die Geschichte hineinziehen. Der sparsame und gut getimte Einsatz von Musik als Kontrapunkt zu den Geräuschen ist denn auch eine der Stärken von «La Tortue Rouge» und trägt sehr viel dazu bei, die vermeintlich simple Geschichte um philosophische, poetische und universelle Dimensionen zu erweitern.

 

Die Story ist rasch erzählt: Ein Schiffbrüchiger landet nach einem Sturm auf einer einsamen Insel. Nach einigen Erkundungstouren, macht er sich daran, einen Floss zu bauen, um von der Insel wegzukommen. Doch als er gerade dabei ist wegzusegeln, wird sein Floss durch eine scheinbar unsichtbare Kraft zerstört. Der Mann gibt nicht auf, repariert das Floss und versucht aufs Neue von der Insel wegzukommen. Das Spiel wiederholt sich einige Male, bis er eines Tages herausfindet, wer oder was dafür verantwortlich ist: eine riesige rote Schildkröte. Ausser sich vor Wut fängt er das Tier, dreht es auf den Rücken und überlässt es seinem Schicksal. Doch je länger er der Schildkröte bei ihrem Todeskampf zusieht, umso mehr hadert er mit seinem Gewissen. Sein Sinneswandel kommt allerdings zu spät. Das Tier ist längst tot – zumindest glaubt er das. Bis die Schildkröte ein überraschende Wandlung durchmacht.

 

Der Schiffbrüchige und die Schildkröte. (© Filmcoopi.ch) 

 

Nach animierten Kurzfilmen wie «Le Moine et le Poisson» und «Father and Daughter» legt Regisseur Michael Dudok de Wit seinen ersten abendfüllenden Animationsfilm vor. Wie bereits in seinen früheren Werken, thematisiert er im Film «La Tortue Rouge» universelle und philosophische Fragen wie unter anderem die Beziehung zwischen Mensch und Natur, den Kreislauf des Lebens sowie Liebe und Tod.

 

Anders als viele Animationsfilme der letzten Jahre ist «La Tortue Rouge» teilweise von Hand gezeichnet, was ihm eine besondere Atmosphäre verleiht. Diese Kohlezeichnungen lassen den Film körnig erscheinen und auch wenn sie nicht mehr so skizzenhaft sind, wie in Michael Dudok de Wits früheren Werken, bleibt dennoch die Einfachheit und Klarheit erhalten. Auf diese Weise bildet «La Tortue Rouge» eine erfrischende Alternative zu den auf Hochglanz getrimmten 3D-Animationen der  Häuser Pixar und DreamWorks. Vielmehr erinnert der Film an Animationsfilme aus Japan, was nicht weiter verwundert, da «La Tortue Rouge» als erster europäischer Film überhaupt vom berühmten japanischen Ghibli-Studio («Chihiros Reise ins Zauberland», «Mein Nachbar Totoro») mitproduziert wurde.

 

Berührend -  wie das Leben 

 

Das eindrücklichste an der Story ist ihre scheinbare Losgelöstheit von Ort und Zeit und ihre gleichzeitige Verankerung im Hier und Jetzt. Dies wird zudem durch das Fehlen von Dialogen untermalt. Fehlende Dialoge lassen Raum und schärfen die Sinne. So fallen die Naturgeräusche viel mehr ins Gewicht und verdeutlichen die unbändige Kraft der Natur und die unermessliche Weite der Welt, die uns Menschen umgibt. Die sparsam eingesetzte Musik trägt zu diesem Gefühl bei, indem sie einen Rhythmus in die Geschichte einbringt, ohne sie mit Pathos zu überdecken.

 

Ausgezeichnet mit dem Prix spécial Un Certain Regard an den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes, ist «La Tortue Rouge» ein poetisches Sinnbild für das Leben. Aufwühlend, verwirrend, aber auch berührend – so wie das Leben.

 

Michael Dudok de Wits «La Tortue Rouge» ist ein kleiner Film über grosse Themen, der trotz – oder gerade wegen – seiner Einfachheit berührt und zum Nachdenken und Philosophieren anregt.

 

  • La Tortue Dudok (FR/JP 2016)
  • Regie: Michael Dudok de Wit
  • Laufzeit: 80 Minuten
  • Kinostart: 22. September 2016

 

 

Sule Durmazkeser / Fr, 23. Sep 2016