Zwei Freundinnen und die Geheimnisse der Vergangenheit

Buchkritik: Ans Meer
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Anna ist eine Psychologin, die selbst am meisten mit emotionalen Problemen zu kämpfen hat. Zu Beginn des Buches schickt sie gleich ihren Freund in die Wüste. Er ist zeugungsunfähig und hatte dies Anna, die sich Kinder wünscht, verschwiegen. Keine klärenden Gespräche, keine nächtelangen Diskussionen. Nein, Anna packt sofort ihre Koffer und zieht vorübergehend zurück zu ihren Eltern.

 

 Eine unreife Mutter und ein erwachsener Sohn

 

Josefa auf der anderen Seite hat einen elfjährigen Sohn, Jens. Ihr Leben ist einsam, denn sie ist alleinerziehend. Schnell merkt der Leser, dass die Beziehung zwischen den beiden eher ungewöhnlich ist. Stellenweise könnte man meinen, Jens sei der Erwachsene und Josefa ein pubertierender Teenager. Deutlich wird dies während einer spontanen Reise mit dem Auto Richtung Südfrankreich. Jens und Josefa entdecken bei einem Zwischenhalt einen Secondhandladen. In 70er-Jahre Kleidung setzen sie ihre Fahrt fort. Ungewöhnlich: Jens trägt ein Kleidchen, da seine Mutter der Meinung ist, das würde dem Jungen gut stehen. Die Szene wirkt absurd und erinnert an kleine Kinder, die zu Hause heimlich die Kleider und Stöckelschuhe ihrer Mutter anziehen.

 

 Die Liebe zum Segelboot

 

Jens wünscht sich nichts sehnlicher, als ans Meer zu fahren. Dorthin, wo Anna und ihre Freundin Josefa während ihrer Jugendzeit zusammen segeln waren. Der Junge hat den Sport von seiner Mutter gelernt und beide bringen eine imponierende Begeisterung dafür auf.

 

Segeln ist übrigens eine Leidenschaft, die fast alle Protagonisten in Tim Krohns Roman zu teilen scheinen. Ausserdem ist «Ans Meer» auch nicht das erste Buch des Autors, in dem Segelboote und die Freude am Ozean eine Rolle spielen. Im Erzählband «Heimweh» schreibt er bereits davon. Dort ist auch die Geschichte von Jens und Josefa zum ersten Mal erzählt worden – jedoch ohne die Geheimnisse der Vergangenheit.

 

 …Geheimnisse

 

Anna und Josefa kennen sich von Kindesbeinen an und durch ihre Verbindung haben sich auch die Eltern der beiden angefreundet – es entstand eine Art Grossfamilie. An den Wochenenden fuhren sie oft alle gemeinsam ans Meer. Beim Lesen wird aber schnell klar: Unter keinen Umständen will die erwachsene Josefa je wieder dahin zurück, wo sie herkommt. Den Kontakt zu ihrer ehemals besten Freundin hat sie völlig abgebrochen und sie meidet alles, was mit ihrer Heimat zu tun hat – über ihre Beweggründe will sie aber nicht sprechen. Etwas Schlimmes muss damals passiert sein.

 

Anna hingegen scheint die Freundschaft mit Josefa zu vermissen. Trotzdem sind alle Versuche, wieder mit ihr in Kontakt zu treten, gescheitert. Auch Anna denkt nicht gerne an die früheren Tage zurück, denn die Schuldgefühle, die sie plagen, sind zu gross.

 

 Gespenster der Vergangenheit

 

Die Geschichte wird aus der Sicht der verschiedenen Protagonisten erzählt. Nach und nach wird deutlich, was in der Vergangenheit passiert ist. Die Geister von damals verfolgen die Romanfiguren. Schuldgefühle, unglückliche Liebschaften, Betrug, Tod, Lügen – alles Probleme, mit denen sich der Leser eigentlich identifizieren könnte. Doch es scheint ein bisschen zu viel des Guten beziehungsweise des Schlechten. Jeder Protagonist ist überladen mit Problemen – darunter leidet die Glaubwürdigkeit der einzelnen Figuren. Einige Schwierigkeiten weniger pro Person hätten gereicht.

 

 

Der kleine Jens ist am Ende der wahre Held der Geschichte. Nicht nur muss er den plötzlichen Verlust seiner Mutter überwinden, es wird auch noch von allen Seiten an ihm gezerrt. Soll er nun bei Anna wohnen – die sich schon als fürsorgliche Mutter sieht – oder doch zu seinem plötzlich aufgetauchten Vater gehen, den er zuvor noch nie gesehen hat? Das ganze Hin und Her und die Versuche Annas, Jens für sich zu gewinnen, nützen am Ende nichts. Denn eine Wahl hat er nicht: Laut Gesetz muss er zu seinem Vater.

 

 zu durchschaubar…

 

Tim Krohns Roman wirkt zuerst spannend und ist leicht zu lesen. Leider wird den Gefühlen, Gedanken und Beweggründenden der Protagonisten zu wenig Beachtung geschenkt. So wird das Buch schnell langweilig und durchschaubar. Der Tod Joesfas, in der Mitte des Romans, soll eine tragische Wende darstellen. Doch für den aufmerksamen Leser kommt diese nicht ganz so überraschend.

 

Ein Roman mit durchaus dramatischen Episoden. Doch wer auf die Spannung eines Krimis oder die Romantik eines Liebesromans hofft, ist hier falsch. Als leicht lesbare Zuglektüre ist das Buch aber auf jeden Fall geeignet.

 

  • Ans Meer
  • Autor: Tim Krohn
  • Verlag: Diogenes
  • ISBN: 978-3-257-24076-4
  • : Im Handel erhältlich

 

Nadine Rohner / Mo, 19. Nov 2012