Das Mädchen und der Tod

Moviekritik: Totem
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©trigon-film.org

Die siebenjährige Sol ist getreu ihrem Namen ein wahrer Sonnenschein. Das Mädchen albert gerne mit ihrer Mutter und noch viel lieber lacht es. Viel zu früh muss sich Sol aber mit dem Tod beschäftigen, weil ihr Vater Tano unheilbar krank ist. Mutter und Tochter sind auf dem Weg zum Haus des Grossvaters, wo am Abend der Geburtstag von Tano gefeiert wird. Sol wird den Tag im Haus des Grossvaters mit Tanten und Cousinen verbringen, bis die Party startet. Auf der Fahrt will das Mädchen plötzlich wissen, ob Papa sterben müsse. In dem Moment verblasst das Strahlen im Gesicht des Mädchens. 

 

Frage an die Sprachfunktion: «Wann geht die Welt unter?»

 

Sol will eigentlich nur ihren Vater sehen, wird aber ständig vertröstet. Er müsse sich erholen, schlafen oder könne gerade nicht, sind die Ausreden. Also streift das aufgeweckte Mädchen alleine durch die Wände des Dreigenerationenhaushaltes. Es beobachtet interessiert, registriert die feinsten Schwingungen im Haushalt und huscht fast wie ein Geist durch das Zimmer, als ein Medium böse Geister vertreiben soll. Sol klebt Schnecken auf Bilder, sitzt auf dem Dach, fragt die Sprachfunktion auf dem Smartphone, wann die Welt untergeht, und lauscht als versteckter Gast einer Sitzung des Grossvaters, der Psychologe ist. Der Tag scheint nur klebrig langsam zu vergehen und Sol bangt auf den Moment, in dem sie zum Vater darf.

 

Sol ist das Herz des Films. Oft folgen wir durch ihre Augen der losen Geschichte. Sie beobachtet im wilden Haushalt und saugt diverse Eindrücke in sich auf. Sie zieht eine imaginäre Linie zwischen den Familienmitgliedern und verknüpft so einerseits die Figuren und andererseits funktioniert sie als eine Art stummer Erzählerin. Dabei stösst sie auf Alkoholmissbrauch, Trauer, Streit und finanzielle Sorgen, die sich durch die Krankheit von Tano in jeden Winkel des Hauses ausbreiten. Tano würde eine Chemo benötigten, dafür fehlt aber das Geld.

 

Sol treibt durch den Tag und beobachtet die Umgebung. (©trigon-film.org

 

Schlauerweise hat sich Regisseurin Lila Avilés ganz bewusst auf die Menschen und das kleine Universum, in dem sie leben, konzentriert. Die junge Mexikanerin versteht es geschickt, auf das fragile Zusammenspiel von Freunden und Familie im Umgang mit einem drohenden Tod zu blicken. Das kennt man möglicherweise aus eigener Erfahrung. Avilés ist dabei die Kommunikation zwischen ihren Figuren wichtig. Dieser Aspekt funktioniert wunderbar. Exemplarisch dafür sind etwa der Grossvater, der vermutlich wegen Kehlkopfkrebs ein Mikrofon benötigt, um zu sprechen, aber auch Sol, die kaum etwas sagt, aber mit ihren Blicken Bände spricht. Naima Senties, die Sol Leben einhaucht, trägt den Film grösstenteils auf ihren Schultern und macht das grossartig. Lila Avilés hat neben der Regie auch das Drehbuch übernommen und konnte sich so der kleinen Hauptdarstellerin annehmen.

 

Ein Lebensfaden endet, andere führen weiter …

 

Im filmischen Kosmos von «Totem» dreht sich alles um Familie und Freunde, daran besteht kein Zweifel. Der Reiz am Film besteht aber letztlich auch darin, dass alle für sich herausnehmen können, was sie möchten. Sei es der Trost der Familie. Oder die Kraft der kleinen Heldin. Der Umgang mit dem Tod in der mexikanischen Kultur. Vielleicht auch nur der menschliche Faktor. Dazu kommt die Dualität zwischen Leben und Tod, die mitschwingt, ohne arg drückend zu sein. Es wird akzeptiert, dass ein Lebensfaden endet, während andere weiterführen. Vielleicht ist aber auch der kleine Funken Hoffnung entscheidend, den die Regisseurin Sol noch lässt, in dem sie den (vermutlich unausweichlichen) Tod des Vaters nicht zeigt.  

 

«Totem» ist ein wunderschön menschlicher Film, der in leisen Momenten voller Ausdruck offenherzig dazu einlädt, in den Alltag einer ganz normalen mexikanischen Familie einzutauchen, über der ein bedrohlicher Schatten des Todes hängt, die sich davon aber nicht brechen lässt. Alle Erwachsenen probieren das Thema von den Kindern fernzuhalten, lachen mit ihnen, spielen, halten die löchrige Illusion von Normalität aufrecht und funktionieren. Durch diesen realistischen Ansatz, den viele Familien aus eigener Erfahrung kennen, wirkt der Film authentisch. Zusätzlich hilft, dass «Totem» im Format 4:3 gedreht ist und so wie ein Heimvideo wirkt.

 

«Totem» lebt von der zwischenmenschlichen Wärme und der Normalität. Getragen von der jungen Hauptdarstellerin entfaltet sich ein soziales Kaleidoskop, das mal zum Schmunzeln anregt und mal tief berührt.

 

  • Tótem (Mexiko 2023)
  • Regie & Drehbuch: Lila Avilés
  • Besetzung: Alberto Amador, Iazua Larios, Juan Francisco Maldonado, Teresita Sánchez, Mateo Garcia Elizondo, Saori Gurza, Marisol Gasé, Montserrat Marañon, Naima Senties
  • Laufzeit: 95 Minuten
  • Kinostart: 7. Dezember 2023

 

Bäckstage Redaktion / Fr, 08. Dez 2023