Briefe gegen das Schweigen

HRFF-Kritik: I owe you a letter about Brazil
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© Human Rights Festival

Während Studentenprotesten gegen die Diktatur im Sommer 1971 wurde in Brasilien ein 17-Jähriger festgenommen und zu 13 Jahren Haft verurteilt. Dank dem Einsatz seiner Mutter und Amnesty International wurde César Benjamin 5 Jahre später aus dem Gefängnis entlassen. Über die Jahre, die er unter Folter in Einzelhaft verbringen musste, spricht er danach kaum.

 

Der Dokumentarfilm «I owe you a letter about Brazil» ist die Würdigung einer Tochter an einen tragischen Teil ihrer Familien-Geschichte und eine Liebeserklärung an ihren Vater, der seinen Teil der Geschichte als «Black Box» mit sich herumträgt. Die Filmemacherin Carol Benjamin montiert aus verschiedenem Archivmaterial wie Videos, Fotos und Zeitungsausschnitten eine eindrückliche Dokumentation, welche die Geschichte ihres inhaftierten Vaters, ihres Onkels Cid Benjamin, ebenfalls politischer Häftling, ihrer Grossmutter Iramaya Benjamin, die mit Hilfe von Amnesty International jahrelang für die Freilassung ihres Sohnes gekämpft hatte, und die auch ein düsteres Stück brasilianische Geschichte erzählt.

 

Ein besonderer Fall

 

Nach1964 entwickelte sich Brasilien unter General Castello Branco nach und nach zur Militärdiktatur. Es kam zu vermehrtem Widerstand gegen das Regime und zu zahlreichen Studentenprotesten, worauf mit scharfen Gesetzen und mit der Einführung der Todesstrafe reagiert wurde. Als im Oktober 1969 General Emílio Garrastazu Medici zum Präsidenten gewählt wurde, trat eine Verfassung in Kraft, die den Präsidenten mit noch mehr Macht ausstattete. Tatsächlich regierte Medici repressiv und brutal, indem er die Zensur und die weit verbreitete Folter als Machtinstrumente tolerierte. Zeitungen, Bücher, Theaterstücke, Filme und Musik wurden zensiert und viele Autoren, Künstler und Professoren wurden überwacht, gefoltert oder ins Exil geschickt. Im Sommer 1971 nahm man an einer Demonstration den damals 17-jährigen César Benjamin fest und verurteilte ihn zu 13 Jahren Haft. Im Gefängnis verbrachte er mehrere Jahre in Einzelhaft, in einer kleinen Zelle, nackt und unter Folter.

 

Welche Rolle spielte Amnesty International?

 

Da César Benjamin mit seiner Tochter Carol nicht über seine Vergangenheit spricht, reist Carol nach Schweden und trifft Marianne Eyre und Thomas Hammarberg, Mitarbeitende der schwedischen Sektion von Amnesty International, welche sich gemeinsam mit ihrer Grossmutter Iramaya für Césars Entlassung aus dem Gefängnis eingesetzt hatten. Sowohl ihr Vater als auch ihr Onkel lebten während der Zeit ihres Exils in Schweden. Ein Briefwechsel zwischen Iramaya Benjamin und Marianne Eyre, der sich über mehrere Jahre erstreckte, führt wie ein roter Faden durch den Film. Zwischen Iramaya und Marianne entwickelte sich eine enge Freundschaft, die sich auch in den zum Teil sehr persönlichen Worten ihrer Korrespondenz widerspiegelt. Andere immer wiederkehrende essayistisch anmutenden Elemente wie das Voice-Over, die Stimme einer Frau, welche Iramaya Benjamins Briefe vorliest, die Filmaufnahmen des Wellengangs des Atlantiks oder auch einzelne Szene wie das berührende Wiedersehen von Cid und César am schwedischen Flughafen, verleihen dem Film einen gewissen Rhythmus und eine Poesie, die versucht der Schwere und Traurigkeit der Thematik entgegenzuwirken.

 

Bericht über Menschenrechtsverletzungen

 

2011 wurde vom Kongress in Brasília eine Wahrheitskommission damit beauftragt, die während der Zeit der Militärdiktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Am 10. Dezember 2014 veröffentlichte die Kommission ihren Abschlussbericht. Darin finden sich mehr als 430 Namen von nachweislich Getöteten und «Verschwundenen», die zwischen 1964 bis 1985 von Polizisten oder Geheimdienstmitarbeitern getötet wurden. Die Eliminierung und Unterdrückung von Oppositionellen wurde zur Zeit der Diktatur vom Präsidenten und von Ministern der Regierung entschieden und durchgesetzt. Die Wahrheitskommission wurde am 16. Dezember 2014 wieder aufgelöst. Während der Amtszeit Emílio Garrastazu Medicis wuchs die brasilianische Wirtschaft sehr schnell, die Schere zwischen Arm und Reich jedoch tat sich weiter auf. Das Bild des brasilianischen Wirtschaftswunders legitimierte die Militärdiktatur und trug zu einer positiven Bilanz des Regimes bei, welche die Brasilianische Bevölkerung lange zum Schweigen über die Gräueltaten bewegte.

 

Mit Jair Bolsonaro wird Brasilien heute von einem Staatspräsident regiert, der die Militärdiktatur nach wie vor verteidigt und durch menschenrechtsfeindliche Äusserungen von sich reden macht. Bis zu den nächsten Wahlen 2022 dürfte die COVID19-Krise das Thema sein, welches die brasilianische Bevölkerung am meisten beschäftigt. Gemäss jüngsten Umfragen im Rahmen der Kommunalwahlen ist Bolsonaro nach wie vor beliebt, hat mittlerweile aber nicht mehr die Überzeugungskraft, wie kurz nach seiner Wahl 2018.

 

«I owe you a letter about Brazil» ist eine persönliche, feinfühlige Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte der Regisseurin und zugleich ein Versuch, einen unbegreiflichen, schweren Teil der Geschichte eines Landes aufzuarbeiten. Der Film entlässt den Zuschauer mit einer Vorstellung davon, mit welcher Härte das militärische Regime in Brasilien damals gegen Oppositionelle vorgegangen ist.

  • I owe you a letter about Brazil (Brasilien 2020)
  • Gerne: Dokumentation
  • Regie: Carol Benjamin
  • Drehbuch: Carol Benjamin, Rita Toledo
  • Laufzeit: 90 Minuten
  • Kinostart: t.b.a.

 

Kritik im Rahmen der Berichterstattung zum Human Rights Festival Zurich 2020

 

Yolanda Gil / So, 13. Dez 2020