Alice Rohrwacher: «Es kann keine Tragödie ohne Komödie geben»

Interview mit Alice Rohrwacher
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© Zurich Film Festival

Als Kind habe sie häufig Geschichten über antike Fundstücke mitbekommen, die plötzlich entdeckt wurden und mit denen einige Leute leicht Geld verdient hätten, erzählt die italienische Autorenfilmerin Alice Rohrwacher im Interview. Ihr neuer Film «La Chimera» handelt vom Archäologen Arthur (Josh O’Connor), der in den 80er Jahren in Italien, genauer gesagt am Tyrrhenischen Meer, mit Grabräubern antike Gegenstände ausgräbt. Eine mysteriöse Gabe erlaubt es ihm, diese unsichtbaren Gräber aufzuspüren. Unterschlupft findet er bei Flora (Isabella Rossellini), einer alten Opernsängerin und wahrscheinlichen der Mutter von Benjamina, Arthurs verstorbener Geliebten. In deren grossen, bröckligen Anwesen haust auch Italia, eine junge Frau, der Arthur mit der Zeit immer wie näher kommt.

 

Der Film selbst wirkt wie ein Relikt aus einer anderen Zeit, dies ist der Filmaufnahmen geschuldet, die im 35mm und 16mm aufgenommen wurden. «La Chimera» tanzt wie die anderen Werke von Alice Rohrwacher irgendwo zwischen Traum und Realität, das Gesagte und Getane muss häufig auf eine Metaebene gebracht werden. Welche Themen Alice Rohrwacher wichtig waren, erzählte sie uns im Interview.

 

Konnte Josh O’Connor Italienisch sprechen als du ihn für die Titelrolle des Arthur besetzt hast?

Alice Rohrwacher: Er lernte es für die Rolle. Bei jeden Film, den ich mache, unterrichte ich jemanden in Italienisch. (lacht) In «Land der Wunder» lernte Sam Louwyck explizit für den Film Italienisch. Und bei «Glücklich wie Lazzaro» mussten wir auf Vorgaben der Produktionsfirma eine Deutsche Darstellerin besetzen, welche das das Alt-Italienische lernen musste. Und hier bei meinem neusten Film war es der Hauptdarsteller. Mein geheimer Wunsch ist es, eine Italienischlehrerin zu sein. 

 

War es der gleiche Fall bei der brasilianischen Darstellerin Carol Duarte, welche Italia spielt?

Alice Rohrwacher: Ja, sie sprach vorher auch kein Italienisch. Aber für sie war es einfacher, es zu erlernen. Sie redet so perfekt im Film, dass selbst Italiener meinen, sie sei eine gebürtige Italienerin. Ehrlich gesagt wusste ich nicht woher die Figur der Italia sein sollte. Sie ist eine Fremde und kommt von irgendwoher, das war das einzige, was mir zur ihrer Figur bewusst war. Wegen des Rassismus in Italien war es mir wichtig, dass sich eine Figur namens Italia einem Ausländer anvertraut.

 

Manche Lines sind auch in Englisch, war das von Josh improvisiert?

Alice Rohrwacher: Nein, das stand alles so exakt im Drehbuch.

 

Wie wichtig war es das Arthur ein Engländer ist?

Alice Rohrwacher: Bei Arthurs Charakter war es immer schon klar, dass er aus dem Ausland kommen muss. Wir brauchen manchmal den Blick eines Fremden, um unseren eigenen Reichtum zu entdecken. Italiener haben immer neben antiken Gegenständen gelebt und haben diese als etwas Selbstverständliches, als nichts Gegensätzliches von ihnen verstanden. Weil es immer schon da war. Und als die Ausländer kamen, bekamen diese antiken Gegenstände plötzlich neue, andere Bedeutung. Die Ausländer gaben diesen Dingen einen Wert. Dies repräsentiert Arthur in meinem Film. 

 

Du hast mal gesagt, dass «Glücklich wie Lazzaro», «Land der Wunder» und «La Chimera» eine Art Trilogie darstellen. Wie kann ich mir das vorstellen?

Alice Rohrwacher: Ja, das habe ich mal vor einer Weile gesagt. (lacht) Es ist nicht wirklich eine zusammenhängende Trilogie. Aber es gibt eine Verbindung, alle drei porträtieren das Ländliche und beschäftigen sich mit dem Umgang mit der Vergangenheit und dem Vergänglichen. Die drei Filme sind wie die Eruption des gleichen Vulkans. Es gibt Rauch, Schlot und am Schluss noch Lava. 

 

Welche Bedeutung gibst du Benjamina, Arthurs verschollener Geliebten?

Alice Rohrwacher: Ich wollte schon immer eine ganz romantische Geschichte einer unmöglichen Liebe erzählen. Und eine Liebe zu einer Toten stellt dies am besten dar. Ich wollte mit Arthur einen durch und durch romantischen Helden erschaffen. Jemanden der etwas sucht, dass er unmöglich finden kann, oder vielleicht doch. (lacht) Dies gibt Arthur etwas unglaublich Mystisches zugleich. Als ich an diese Grabräuber dachte, über die ich meine Geschichte erzählen wollte, sollten dies vulgäre, einfache Leute sein, die Geld wollen. Aber zugleich sind das Menschen, die Arthurs Gabe einfach hinnehmen. Sie hinterfragen nicht, wieso er die Gräber aufspüren kann, welche Magie hier wirkt und woher sie kommt, wie sie erklärt werden kann. Sie akzeptieren diese übersinnliche Gabe. Sie akzeptieren das Unsichtbare. Mir war wichtig, dass sie weltliche Wesen sind. Sie haben eine ganz normale Selbstverständlichkeit mit dem Unerklärbaren, dem Mystischen. Sie gehen damit um, als wäre es das Normalste auf der Welt. Und diese Gabe von Arthur, sie kommt aus meiner Sicht aus der Liebe zu Benjamina. 

 

Eine ähnliche Thematik findet man als Zuschauende in «Glücklich wie Lazzaro».

Ich denke, dies ist mir sehr wichtig, und ich denke wir haben dies ein wenig verloren, diese Verbindung mit dem Übersinnlichen. Der Möglichkeit das das Aussergewöhnliche existiert und dass man zwischen dem Üblichen und Unüblichen nicht anders umgehen muss. Das man an das Unsichtbare glauben soll. Für mich kann das Sichtbare nicht ohne das Unsichtbare existieren, sie sind beide Facetten des Gleichen. So wie es keine Tragödie ohne Komödie geben kann. Das ist auch etwas sehr italienisches, eine Tragödie muss auch etwas Komisches, Lustiges haben, damit sie gut ist. Ich mag es diese Gegensätzlichkeiten zusammenzuführen. Wir leben in einer Epoche, in der wir nach Differenzen, nach unterschiedlichen Kategorien suchen möchten. Wir führen sehr spezialisierte Leben mit spezialisierten Berufen. Gerade deshalb mache ich Filme, die verschiedene Ebenen und Tiefen berühren. Weil der Mensch viel zu komplex ist, um in eine Schachtel gesteckt zu werden. Um etwas zu finden, muss man sich auch verlieren. Die Chimäre ist auch so eine Figur nach der man greift, aber die man nie fassen kann. 

 

Tanja Lipak / Mi, 11. Okt 2023